"Könnte es sein, dass
es die unvollkommene Schönheit ist, welche sich als die
vollkommene erweist? Eine Schönheit, welche kein Anschlag
auf die Sinne ist, sondern langsam in uns einsickert und uns
dann lange und ständig begleitet und unser Herz mit Schmerzen
füllt - den Schmerzen der Erinnerung.
Zunächst war es die Stimme
Renata Tebaldis gewesen, die mich, in den Jahren der
éducation sentimentale durch die Oper, zu den Engeln
schickte. Die Stimme der Callas, für die sich ein als versponnen
und morbide-außenseiterisch eingeschätzter Schulfreund
begeisterte, erschien mir als unstet, schrill, als hässlich
gar, auf jeden Fall als artifiziell.
Doch dann kam der Abend, an
dem ich bei einem Fernempfangbummel durch die Mittelwellensender
Europas in die Übertragung einer ihrer Aufführungen
geriet. Sie sang in Berlin die Lucia di Lammermoor, und zum
erstenmal empfand ich eine Stimme zugleich als körperliche
Berührung und als eine Idee: als etwas Unverlierbares.
Spürte, wie sich die Farbe der Schönheit über
die Finsternis des Schmerzes legte - wie Shelley es ausgedrückt
hat; und fortan ließ mich diese Stimme nicht mehr los.
Aber es dauerte Jahre, bis ich
merkte, dass es nicht nur die Stimme oder viel mehr als die
Stimme war, nämlich die Fähigkeit der Sängerin,
das Leben und die Intensität der Emotionen auszudrücken;
dass wichtiger als die Bewunderung dafür, wie sie sang,
die Einsicht wurde, warum sie sang: aus Passion."
Jürgen Kesting in "Maria Callas", List-Verlag
2006.
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